Dichterpaar
Brückner-Kühner


Kulturen des Komischen
Humor, der Komisches künstlerisch ausgezeichnet hervorbringt, ist einer der drei Gegenstandsbereiche der Stiftung Brückner-Kühner, die zusammen mit der Stadt Kassel seit 1985 jährlich den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor vergibt.
Sprachkunst
Bestimmte Formen von Literatur und Sprachkunst sind wichtig, ohne dass sie vom breiten Geschmack profitieren könnten. Daher haben sie Unterstützung besonders nötig. Das betrifft insbesondere innovative Formen der zeitgenössischen Dichtung, für die sich die Stiftung Brückner-Kühner einsetzt.

Preisträger
Aktuell
Preisverleihung an Gerhard Henschel und Noemi Somalvico
Am Samstag, dem 6. Mai 2023, wurde der Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor feierlich an Gerhard Henschel verliehen. Der Förderpreis Komische Literatur ging an Noemi Somalvico.

v.l.n.r.: Sparkassenvorstand Jochen Johannink, Preisträgerin Noemi Somalvico, Preisträger Gerhard Henscheld, Stadtverordnetenvorsteherin Dr. Martina van den Hövel-Hanemann, Stiftungskurator Dr. Friedrich Block, Kulturdezernentin Dr. Susanne Völker, Bürgermeisterin Ilona Friedrich, Laudator Prof. Dr. Rainer Moritz, Laudatorin Anna Jung, Stiftungsratsvorsitzende Friederike Emmerling (Foto: Anja Köhne)
In seiner Laudatio auf Gerhard Henschel konzentrierte sich Prof. Rainer Moritz vor allem auf die Martin-Schlosser-Romane des Preisträgers. Zitat: „Grotesk humorvoll sind Henschels Romane, weil sie trotz ihrer Ausrichtung auf einen Alltagsrealismus über einen schier unerschöpflichen Fundus grotesker Familienerlebnisse verfügen und weil ihr Autor ein Meister der Zuspitzung ist, der in jedem Dialog, in jedem Detail unserer Wirklichkeit das Aberwitzige, ja mitunter Groteske sieht.“ Gerhard Henschel dankte u.a. mit einer Passage aus seinem Überregionalkrimi „SOKO Heidefieber“, in dem u.a. der real existierende Autor Frank Schulz, fiktional brutal malträtiert wird. Frank Schulz, selbst Träger des Kasseler Literaturpreises, saß dabei in der ersten Reihe.
Noemi Somalvico war von ihrem Verlag Voland & Quist ins Rennen geschickt worden und setzte sich gegenüber Vorschlägen von etwa 40 weiteren Verlagen mit ihrem Debüt „Ist hier das Jenseits, fragt Schwein“ durch. Für den Verlag begründete Anna Jung in ihren Lobworten den erfolgreichen Vorschlag unter anderem mit der schrägen Theologie des Romans, denn dort sei Gott „ein deus depressivus und ein deus comicus, ein etwas depressiver aber auch ein komischer Gott, bei dem ein Fisch im Gang feststeckt“.
Der Abend wurde musikalisch vom legendären Spardosen-Terzett gerahmt und eröffnete das 10. Kasseler Komik-Kolloquium, das Festival zur Literatur und Wissenschaft des Komischen.
Auf dem Schwarzen Sofa: Victoria Feshchuk

Victoria Feshchuk
Beim Salon „Auf dem Schwarzen Sofa“ las Victoria Feshchuk am 20.4.2023 gemeinsam mit den geladenen Gästen aus ihrem Tagebuch-Gedicht „182 Tage“. Im Rahmen des Schutzprogramms „Hafen der Zuflucht Hessen“ lebt Victoria seit Juli 2022 als Gast des Gießener Vereins „Gefangenes Wort“ und der Stiftung Brückner-Kühner im Dichterhaus Brückner-Kühner. Zwischen dem 24. Februar 2022, dem Tag der brutalen Intensivierung des Kriegs Russlands in der Ukraine, bis zum 24. August hatte Victoria jeden Tag ein dreizeiliges Gedicht verfasst, um ihren Erfahrungen mit dem Krieg eine dichte und subjektive sprachliche Form zu geben. So entstanden insgesamt 182 Gedichte, die zu einem Langgedicht gebunden sind. Gemeinsam wurde beim Salon der in Kassel entstandene Teil auf Deutsch gelesen und besprochen. Die Verse wurden von Ganna Gnedkova aus dem Ukrainischen ins Deutsche übertragen. Illustriert von Iryna Sazhynska und gestaltet von Oksana Gadzhiy erscheinen sie demnächst gedruckt im Verlag Jenior.
Neue ungehaltene Reden bei S. Fischer
„Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden! Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“: Unter diesem Titel erscheint am 22. Februar 2023 im S. Fischer Verlag ein Buch mit 24 der im Jahr 2022 eingereichten Reden. Frauen aus allen Bereichen des Lebens kommen zu Wort.
Zum zweiten Mal riefen 2022 die Stiftung Brückner-Kühner und der S. Fischer Verlag in Kooperation mit dem Archiv der deutschen Frauenbewegung, der Stadt Kassel und dem Hessischen Rundfunk Frauen dazu auf, ungehaltene Reden zu verfassen. Gesucht waren Beiträge von gesellschaftlicher und persönlicher Bedeutung. Knapp hundert Frauen nahmen an der Ausschreibung teil. Sechs davon haben am 10. Dezember 2022 ihre Reden vor Publikum im Kasseler Rathaus gehalten. Diese und weitere Reden sind auf der Website ungehalten.net abrufbar.
In der Anthologie „Sag jetzt nichts, lass mich zu Ende reden! Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ versammeln sich neben den Texten der eingeladenen Rednerinnen noch viele weitere bemerkenswerte Reden. Sie sind zornig, komisch oder nachdenklich. Gemeinsam und mutig erzählen sie von Verletzlichkeit, Widerstand und Aufbruch. Die Rednerinnen wollen nicht länger schweigen in einer Welt, die Frauen immer noch viel zu wenig zu Wort kommen lässt.
Auch im Jahr 2023 wird es ab Mai wieder eine Ausschreibung geben und ungehaltene Rednerinnen können sich bis zum 31. Juli über das Portal, das zum Ausschreibungsbeginn hier auf der Website öffnet, bewerben.
Sechs von 98 „Ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen“
Am 10. Dezember 2022 war es soweit: Im Kasseler Rathaus wurden im Saal der Stadtverordneten zum zweiten Mal ungehaltene Reden ungehaltener Frauen gehalten. Diesmal waren 98 Frauen der Einladung der Stiftung Brückner-Kühner und des S. Fischer-Verlages gefolgt, sich für diesen Anlass mit einer per Video aufgezeichneten Rede zu bewerben. Der 10. Dezember ist der Geburtstag der Schriftstellerin Christine Brückner (1921-1996), die mit ihrem Buch „Wenn du geredet hättest, Desdemona“ die Idee zu diesem Projekt lieferte, und es ist der Internationale Tag der Menschenrechte.

Rednerinnen und Jury: v.l.n.r. vorn: Çağla Şahin, Julia Hagen, Dr. Eva Schulz-Jander, Dr. Chrizzi Heinen, Sara Ehsan, Zoe Cross, Bettina Pili, hinten: Dr. Susanne Völker, Friederike Emmerling, Dr. Gilla Dölle, Dr. Friedrich W. Block, Sandra Kossendey. Foto: Anja Köhne
Begrüßt von der ungehaltenen Kulturdezernentin Dr. Susanne Völker sowie der Projektleitung – Dr. Friedrich Block (Stiftung Brückner-Kühner) und Friederike Emmerling (S. Fischer Theater und Medien) –, hielten dann fulminante Reden: Zoe Cross (Wiesbaden), Sara Ehsan (Karlsruhe), Sandra Kossendey (Oldenburg), Chrizzi Heinen (Berlin), Bettina Pili (Bad Homburg) und Dr. Eva Schulz-Jander (Kassel). Der mit 300 Personen voll besetzte Saal feierte die Frauen mit Standing Ovation.

v.l.n.r.: Bettina Pili, Sara Ehsan, Sandra Kossendey, Chrizzi Heinen, Dr. Eva Schulz-Jander, Zoe Cross. Foto: Anja Köhne
Unser Medienpartner hr2-kultur wird die Reden am 22. Januar 2023 (12.05 Uhr) und 28. Januar 2023 (18.05 Uhr) senden. Der Stream der Veranstaltung, die einzelnen eingeladenen sowie auch die eingereichten Reden können alle auf ungehalten.net angeschaut werden. Auch in diesem Jahr 2023 soll es wieder eine Ausschreibung geben.
182 Tage – Victoria Feshchuk: Lesung und Gespräch
Mittwoch, 30.11.2022, 19 Uhr, Stadtbibliothek Kassel, Obere Königsstraße 3, 34117 Kassel
Moderation: Friedrich W. Block (Stiftung Brückner-Kühner) und Madelyn Rittner (Gefangenes Wort, Gießen)
Seit Mitte Juli lebt die ukrainische Dichterin Victoria Feshchuk als Artist in Residence im Dichterhaus Brückner-Kühner im Rahmen des Programms „Hafen der Zuflucht Hessen“. Der Abend widmet sich ihrem jüngsten Projekt: einem Tagebuch-Gedicht, das sie in Kyjiw begonnen und in Kassel abgeschlossen hat. 182 Tage lang hat sie daran geschrieben, beginnend mit dem ersten Tag der Kriegs-Verschärfung in der Ukraine am 24. Februar 2022. Außerdem spricht Victoria Feshchuk darüber, wie Dichtung ein sicherer Ort angesichts von Krieg sein kann, und grundsätzlicher darüber, wie sich ukrainische Dichtung aktuell unter den gegebenen Umständen entwickelt: mit Namen und Tendenzen.
Im Dichterhaus arbeitet die 26-jährige Autorin an Kurzgeschichten, Essays, Gedichten und Übersetzungen. Sie steht dabei in ständigem Austausch mit ihren ukrainischen Kolleginnen und Kollegen: Eines ihrer wesentlichen Interessen während ihres Aufenthalts besteht darin, die ukrainische Literatur und Kultur hierzulande und international sichtbarer zu machen. Ein wichtiges Medium dafür ist die Online-Plattform Chytomo, die Beiträge auf Englisch und Ukrainisch veröffentlicht und für die Victoria Feshchuk als Redakteurin und Kuratorin tätig ist. Die Plattform wird von der gleichnamigen Initiative zur Unterstützung ukrainischer und osteuropäische Kulturprojekte unterhalten.
Eine Veranstaltung von Stadtbibliothek Kassel, Stiftung Brückner Kühner und Gefangenes Wort.
Die ukrainische Autorin Victoria Feshchuk im Dichterhaus
Victoria Feshchuk aus der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw lebt seit Mitte Juli im Dichterhaus Brückner-Kühner. Der Stipendienaufenthalt erfolgt im Rahmen des Programms „Hafen der Zuflucht Hessen“, das von dem in Gießen ansässigen Verein Gefangenes Wort in Kooperation mit der Stiftung Brückner-Kühner organisiert und vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst finanziert wird. Vermittelt wurde die Autorin durch Artists at Risk und das Goethe-Institut.
Im Dichterhaus arbeitet die 26-Jährige an Kurzgeschichten, Essays, Gedichten und Übersetzungen. Sie steht dabei in ständigem Austausch mit ihren ukrainischen Kolleginnen und Kollegen: Eines ihrer wesentlichen Interessen während ihres Aufenthalts besteht darin, die ukrainische Literatur und Kultur hierzulande und international sichtbarer zu machen. Ein wichtiges Medium dafür ist die Online-Plattform Chytomo, die Beiträge auf Englisch und Ukrainisch veröffentlicht und für die Victoria Feshchuk als Redakteurin und Kuratorin tätig ist. Die Plattform wird von der gleichnamigen Initiative zur Unterstützung ukrainischer und osteuropäische Kulturprojekte unterhalten.
Für Chytomo entstand auch ein kleiner Essay von Victoria Feshchuck, dessen deutsche Übersetzung hier zu lesen ist. Er handelt von ihrem Aufenthalt im Dichterhaus, wo der Krieg zugleich nah und fern ist, und insbesondere von einem Langgedicht: Beginnend mit dem 24. Februar, dem Beginn der russischen Invasion, hat sie täglich drei Zeilen verfasst, in die ihre Erfahrungen mit dem Krieg einfließen. Am 24. August, dem Feiertag anlässlich der Unabhängigkeit der Ukraine, fand das Gedicht seinen vorläufigen Abschluss.
Victoria Feshchuk studierte Ukrainische Sprache und Literatur sowie Fremdsprachen, sodann Literatur- und Kunstwissenschaft an der Taras Shevchenko National-Universität in Kyjiw und absolvierte dann ein Erweiterungsstudium der Ukrainischen Literatur und Kultur an der Jagielloński Universität in Kraków, Polen. Stipendienaufenthalte führten sie nach Palermo (2018) und ins polnische Przemyśl (2022). Sie spricht neben ihrer Muttersprache fließend Englisch, Polnisch und Russisch. Während ihres Stipendienaufenthalts möchte sie die deutsche Sprache erlernen. Ihre Gedichte, die sie in Print- und Online-Sammlungen veröffentlicht hat, wurden ins Deutsche, Englische und Polnische übertragen. Sie bereitet eine illustrierte Veröffentlichung des erwähnten Langgedichts in einer ukrainischen und einer deutschen Fassung vor.
Hier geht es zu ihrem Essay „Ein Tür-Gedicht“ >>>
Preisverleihung an Helge Schneider und Anaïs Meier
Nachdem die Preisverleihung pandemiebedingt im Februar verschoben werden musste, war es endlich soweit: Am 1. September wurden im Kasseler Rathaus der Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor an Helge Schneider und der Förderpreis Komische Literatur an Anaïs Meier vergeben. Das Kulturradio des Hessischen Rundfunks hr2-kultur hat einen Mitschnitt in Auszügen gesendet.
Die Autorin Anaïs Meier aus Zürich hatte sich bei der Ausschreibung gegen große Konkurrenz durchgesetzt. Vorgeschlagen wurde sie von ihrem Verlag Voland & Quist. Dessen Leiter Leif Greinus pries das Werk der Ausgezeichneten: „Anaïs Meier schafft es, mit ihren Werken die Welt ein Stück besser zu machen, und wir, die wir ihre zukünftigen Bücher lesen dürfen, werden unendlich Spaß haben.“ Die Autorin bedankte sich mit einer Kostprobe aus ihrem Debütroman „Mit einem Fuss draussen“.
Erstmals in der Geschichte des Preises wurde ein Preisträger von seiner Vorgängerin gelobt: Felicitas Hoppe, die 2021 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor erhalten hatte, hielt die Laudatio auf Helge Schneider, obwohl dieser, wie sie eingangs hervorhob „unlaudierbar“ sei. Jedenfalls aber sei er jemand, der das Missvergnügen der Welt ohne jedes Konzept in Nahrung verwandelt: „Trost durch Freiheit. Spass und ein Glas. Cola mit Fanta gemischt, virtuose Gnade und künstlerische Barmherzigkeit. In anderen Worten: Känguruhsalat.“ Daher hatte die Laudatorin fürs Publikum auch Trostblättchen dabei, in der Schweiz so genannte ‚Helgelis‘, mit einem Zitat Helge Schneiders: „Und der Mond lächelt der Erde zu“.
Der Preisträger erzählte in seiner Entgegnung von der abenteuerlichen Fahrt über Land nach Kassel und gab Einblick in sein jüngstes Buchprojekt, an dem er seit vier Jahren arbeitet: Das bislang aus einer knappen Seite bestehende Manuskript hatte Helge Schneider dabei und gab es, begleitet von elektronischen Klängen, zum Besten.
Musikalisch gerahmt wurde der Abend von der Posaunen-Jazzquartett „Kasseler Slide Connection“, das auch ein Helge-Medley im Gepäck hatte.
Einige Eindrücke von der festlichen Verleihung (Fotos: Anja Köhne):










Buch: Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen
Im S. Fischer-Verlag ist eine Ausgabe der „Neuen Rundschau“ mit 19 „Neuen ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen“ erschienen. 16 dieser Reden entstanden im Rahmen des Projekts „Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“. Gesucht waren Reden von gesellschaftlicher und persönlicher Bedeutung. 119 Frauen haben sich beteiligt, sechs von ihren Reden wurden ausgewählt, um im Kasseler Rathaus gehalten zu werden. Die Neue Rundschau versammelt die Texte dieser ungehaltenen Rednerinnen sowie eine Auswahl weiterer, bemerkenswerter Reden. Als ‚Bonus‘ gibt es zudem drei Reden, die von Nora Gomringer, Stefanie Sargnagel und Katja Lange-Müller auf dem Kasseler Komik-Kolloquium 2020 gehalten wurden. Die erste Auflage ist bereits vergriffen.
„Deine Bilder – Meine Worte“: Dokumentation
Im Rahmen des Jubiliämsprogramms „100 Jahre Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner“ organisierte der Freundeskreis Brückner-Kühner die Ausstellung „Deine Bilder – Meine Worte“: Gezeigt wurden erstmals in größerem Umfang Gemälde des Schriftstellers Otto Heinrich Kühner. Gegliedert in verschiedene thematische Kabinette waren den Bildern Zitate aus dem Werk von Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner zugeordnet. Die vor kurzem erschienene Dokumentation versammelt Abbildungen der ausgestellten Bilder sowie die zugehörigen Texte in Kapiteln, die den Ausstellungskabinetten entsprechen. Die von den Kuratorinnen Elke Böker, Renate Fricke und Erika Mohs besorgte Dokumentation hat 70 Seiten und kostet 10 Euro (für Mitglieder des Freundeskreises 5 Euro). Zu beziehen im Dichterhaus Brückner-Kühner sowie über den Freundeskreis.
Ivan Fíla: Briefe an eine Verstorbene
Ivan Fíla hat während seines Aufenthalts im Dichterhaus viel fotografiert und noch mehr geschrieben. Wir veröffentlichen hier seinen Text Briefe an eine Verstorbene, eine literarische Hommage an Christine Brückner.

BRIEFE AN EINE VERSTORBENE
Ivan Fíla
Es klingelt an der Tür. Ich mache auf. Draußen steht die Postbotin.
„Ein Einschreiben für Frau Brückner.“
Ich stutze.
„Frau Brückner ist schon seit 25 Jahren tot!“
„Sie sind neu hier, was?“, fragt die untersetzte Brünette mit einer gelben Schildmütze auf dem Kopf.
„Ist der Tod denn ein Grund, dass sie keine Briefe mehr bekommt?“
„Nein, aber …“
„Unterschreiben Sie hier und legen Sie‘s ihr auf den Tisch“, sagt die Frau schroff und zieht wieder davon.
Ich gehe ins Arbeitszimmer. Lege den Brief auf den Schreibtisch, auf einen kleinen Haufen zu den anderen. Auf allen steht der Name der verstorbenen Schriftstellerin Christine Brückner. Ich erinnere mich an Friedrich, einen sympathischen Mann in seinen Sechzigern, der mich am Bahnhof in Kassel abgeholt und in ihr Haus gebracht hat.
„Außer Ihrer literarischen Tätigkeit werden Sie hier auch so ein bisschen Verwalter des Museums sein.“
„Des Museums?“, verstand ich nicht.
„Ich mache hier regelmäßig Führungen. Das Haus gehört der Stiftung Brückner- Kühner, ich leite sie, bin deren einziger Angestellter. Aber keine Angst, während Ihres Aufenthaltes werde ich Sie nicht stören. Sie werden hier mit Toten wohnen, die werden Sie auf andere Gedanken bringen.“
Der grauhaarige Mann mit sportlicher Figur öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. Es war mit Möbeln aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts eingerichtet.
„Bewegen Sie hier nichts. Alles ist so geblieben, wie es Christine 1996 verlassen hat, als sie starb. Auch ihre Brille“, zeigte er auf den Arbeitstisch.
„Sie hat das so gewollt?“
„Wir haben uns darüber nie unterhalten, ich spürte aber ihren Wunsch. Wir haben uns sehr gut gekannt.“
„Und ihr Mann?“
„Sein Arbeitszimmer war nebenan. Da ist jetzt mein Arbeitszimmer.“
„Dort darf man auch nichts bewegen?“
„Otto hatte einen solchen Wunsch nicht.“
„Woran ist er gestorben?“
„Hirntumor. Bei Christine wurde dann der gleiche Tumor festgestellt. Sie starb zwei Monate nach ihm. Beide waren spirituell stark miteinander verbunden. Sie wurden auch im selben Jahr geboren. 1921.“
Er schaute mich lange an und sagte leise:
„Sie werden als ein anderer Mensch heimkehren. Ihren Vorgänger hat das hier stark inspiriert. Haben Sie mit ihm gesprochen?“
„Nein. Wir kennen uns nicht persönlich.“
„Sie werden die Stimmen der Toten hören. Auch im Schlaf.“
„Machen Sie mir keine Angst.“
„Ist angenehm. Mit Christine kann man sich gut unterhalten.“
„Es ist wohl besser, wenn ich nicht reingehe, damit ich hier nichts verändere.“
„Nein, nein, setzen Sie sich ruhig hin, lesen Sie und warten Sie, bis Sie ihre Stimme hören. Es wird Sie bereichern, Sie werden anfangen, anders zu schreiben. Ich habe das an mir selbst ausprobiert.“
Er ging zum Regal.
„Hier stellte Christine die Bücher von lebenden Autoren hin. Auch meine Wenigkeit.“
Er ging auf die andere Seite zu einem kleineren Regal.
„Und hier ordnete sie alle Verstorbenen ein. Interessanterweise suchte sie lange vor ihrem Tod achtzehn ihrer eigenen Titel aus und stellte sie zu den Verstorbenen.
„Sagte sie Ihnen warum?“
„Nein. Ich habe nicht gefragt“, lächelte er freundlich und gab mir die Hand. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich an.“
Weder die erste noch die zweite Nacht habe ich etwas geträumt. Erst die dritte.
„Morgen kommt ein Einschreiben für mich. Frag die Postbotin nichts und leg ihn auf den Tisch“, hörte ich eine sanfte Frauenstimme.
Ich wachte auf. Im Halbschlaf ging ich vor die Tür. Draußen goss es. Ich kroch zurück ins Bett und schlenderte mit den Augen in der Dunkelheit umher.
„Ich habe am liebsten nachts geschrieben“, fuhr Christine nach einer Weile fort. „Das ist nicht deine Zeit, oder?“
„Nein“, entfuhr es mir, als ob sie hier mit mir wäre. „Am besten schreibe ich morgens, ich hasse die Dunkelheit.“
„Dann fiel ich in tiefen Schlaf, aus dem mich das Schrillen der Türklingel aufweckte. Draußen stand die Brünette mit der gelben Schildmütze.
„Ein Einschreiben für Frau Brückner.“
„Ich weiß“, sagte ich kurz.
Die Postbotin schaute verdutzt.
„Wie das?“
„Ich habe mit ihr gesprochen“, lächelte ich und unterschrieb die Empfangsbestätigung.
Ich ging ins Zimmer und legte den Brief zu den anderen.
„Interessiert dich nicht, was sie mir schreiben?“, hörte ich Christine, als ich die Tür schließen wollte.
Ich drehte mich um, suchte mit dem Blick das Zimmer ab.
„Lies vor“, sagte sie.
Ich ging zum Tisch zurück, öffnete den Brief mit dem Briefkopf der UNESCO und las laut. Sie dankten für die finanzielle Unterstützung.
„Meine Stiftung schickt ihnen jedes Jahr Geld. Ich bin reich gestorben.“
Für einen Moment schien es mir, als ob ich sie vor mir sehen würde und erblickte ihr Lächeln.
„Mein erstes Buch habe ich anonym bei einem Roman-Wettbewerb eingereicht. Es gewann unter siebenhundert Manuskripten und erschien dann bei Bertelsmann. Es hat sich über 350.000 Mal verkauft. In meinem ganzen Leben habe ich fast zwei Millionen Bücher verkauft. Mit dem Geld habe ich mir Freiheit verschafft. Nach der Liebe der größte Wert.“
In der Tür klirrte der Schlüssel. Im Flur des kleinen 1956 erbauten Reihenhauses waren Schritte zu hören. Friedrich trat ins Zimmer ein. Christines Stimme verlor sich.
„Sie haben uns gestört“, sagte ich mit leicht vorwurfsvollem Ton.
„Hab‘ keine Angst, sie kommt zurück“, ging er zum Duzen über.
„Wo bin ich eigentlich? Wo habt Ihr mich hingeschickt?“
„Du bist Stipendiat des Hessischen Literaturrates. Wir haben dich auf Empfehlung des Prager Literaturhauses ausgewählt. Du erschienst uns interessant.“
„Warum ich? Warum gerade hier?“
„Das ist erst der Anfang, mein Freund. Du ahnst nicht, was Dich hier noch erwartet.“
Er lächelte, nahm die Post und ging.
(Kassel, 2.12.21)
Dichterhaus Brückner-Kühner
Öffnungszeiten:
jeden 1. Montag im Monat, 15 bis 18 Uhr.
Führungen:
wochentags nach Terminabsprache.
Eintritt:
Der Besuch (inklusive Führung) kostet 5 Euro.
Anmeldungen
bitte telefonisch über 0561/24304 oder per Email an post[at]brueckner-kuehner.de.
Das ist der erste Titel
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Das ist der zweite Titel
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