Ivan Fíla hat während seines Aufenthalts im Dichterhaus viel fotografiert und noch mehr geschrieben. Wir veröffentlichen hier seinen Text Briefe an eine Verstorbene, eine literarische Hommage an Christine Brückner.

Dichterhaus Brückner-Kühner. Foto: Ivan Fíla

BRIEFE AN EINE VERSTORBENE
Ivan Fíla

Es klingelt an der Tür. Ich mache auf. Draußen steht die Postbotin.
„Ein Einschreiben für Frau Brückner.“
Ich stutze.
„Frau Brückner ist schon seit 25 Jahren tot!“
„Sie sind neu hier, was?“, fragt die untersetzte Brünette mit einer gelben Schildmütze auf dem Kopf.
„Ist der Tod denn ein Grund, dass sie keine Briefe mehr bekommt?“
„Nein, aber …“
„Unterschreiben Sie hier und legen Sie‘s ihr auf den Tisch“, sagt die Frau schroff und zieht wieder davon.
Ich gehe ins Arbeitszimmer. Lege den Brief auf den Schreibtisch, auf einen kleinen Haufen zu den anderen. Auf allen steht der Name der verstorbenen Schriftstellerin Christine Brückner. Ich erinnere mich an Friedrich, einen sympathischen Mann in seinen Sechzigern, der mich am Bahnhof in Kassel abgeholt und in ihr Haus gebracht hat.
„Außer Ihrer literarischen Tätigkeit werden Sie hier auch so ein bisschen Verwalter des Museums sein.“
„Des Museums?“, verstand ich nicht.
„Ich mache hier regelmäßig Führungen. Das Haus gehört der Stiftung Brückner- Kühner, ich leite sie, bin deren einziger Angestellter. Aber keine Angst, während Ihres Aufenthaltes werde ich Sie nicht stören. Sie werden hier mit Toten wohnen, die werden Sie auf andere Gedanken bringen.“
Der grauhaarige Mann mit sportlicher Figur öffnete die Tür zum Arbeitszimmer. Es war mit Möbeln aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts eingerichtet.
„Bewegen Sie hier nichts. Alles ist so geblieben, wie es Christine 1996 verlassen hat, als sie starb. Auch ihre Brille“, zeigte er auf den Arbeitstisch.
„Sie hat das so gewollt?“
„Wir haben uns darüber nie unterhalten, ich spürte aber ihren Wunsch. Wir haben uns sehr gut gekannt.“
„Und ihr Mann?“
„Sein Arbeitszimmer war nebenan. Da ist jetzt mein Arbeitszimmer.“
„Dort darf man auch nichts bewegen?“
„Otto hatte einen solchen Wunsch nicht.“
„Woran ist er gestorben?“
„Hirntumor. Bei Christine wurde dann der gleiche Tumor festgestellt. Sie starb zwei Monate nach ihm. Beide waren spirituell stark miteinander verbunden. Sie wurden auch im selben Jahr geboren. 1921.“
Er schaute mich lange an und sagte leise:
„Sie werden als ein anderer Mensch heimkehren. Ihren Vorgänger hat das hier stark inspiriert. Haben Sie mit ihm gesprochen?“
„Nein. Wir kennen uns nicht persönlich.“
„Sie werden die Stimmen der Toten hören. Auch im Schlaf.“
„Machen Sie mir keine Angst.“
„Ist angenehm. Mit Christine kann man sich gut unterhalten.“
„Es ist wohl besser, wenn ich nicht reingehe, damit ich hier nichts verändere.“
„Nein, nein, setzen Sie sich ruhig hin, lesen Sie und warten Sie, bis Sie ihre Stimme hören. Es wird Sie bereichern, Sie werden anfangen, anders zu schreiben. Ich habe das an mir selbst ausprobiert.“
Er ging zum Regal.
„Hier stellte Christine die Bücher von lebenden Autoren hin. Auch meine Wenigkeit.“
Er ging auf die andere Seite zu einem kleineren Regal.
„Und hier ordnete sie alle Verstorbenen ein. Interessanterweise suchte sie lange vor ihrem Tod achtzehn ihrer eigenen Titel aus und stellte sie zu den Verstorbenen.
„Sagte sie Ihnen warum?“
„Nein. Ich habe nicht gefragt“, lächelte er freundlich und gab mir die Hand. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie mich an.“
Weder die erste noch die zweite Nacht habe ich etwas geträumt. Erst die dritte.
„Morgen kommt ein Einschreiben für mich. Frag die Postbotin nichts und leg ihn auf den Tisch“, hörte ich eine sanfte Frauenstimme.
Ich wachte auf. Im Halbschlaf ging ich vor die Tür. Draußen goss es. Ich kroch zurück ins Bett und schlenderte mit den Augen in der Dunkelheit umher.
„Ich habe am liebsten nachts geschrieben“, fuhr Christine nach einer Weile fort. „Das ist nicht deine Zeit, oder?“
„Nein“, entfuhr es mir, als ob sie hier mit mir wäre. „Am besten schreibe ich morgens, ich hasse die Dunkelheit.“
„Dann fiel ich in tiefen Schlaf, aus dem mich das Schrillen der Türklingel aufweckte. Draußen stand die Brünette mit der gelben Schildmütze.
„Ein Einschreiben für Frau Brückner.“
„Ich weiß“, sagte ich kurz.
Die Postbotin schaute verdutzt.
„Wie das?“
„Ich habe mit ihr gesprochen“, lächelte ich und unterschrieb die Empfangsbestätigung.
Ich ging ins Zimmer und legte den Brief zu den anderen.
„Interessiert dich nicht, was sie mir schreiben?“, hörte ich Christine, als ich die Tür schließen wollte.
Ich drehte mich um, suchte mit dem Blick das Zimmer ab.
„Lies vor“, sagte sie.
Ich ging zum Tisch zurück, öffnete den Brief mit dem Briefkopf der UNESCO und las laut. Sie dankten für die finanzielle Unterstützung.
„Meine Stiftung schickt ihnen jedes Jahr Geld. Ich bin reich gestorben.“
Für einen Moment schien es mir, als ob ich sie vor mir sehen würde und erblickte ihr Lächeln.
„Mein erstes Buch habe ich anonym bei einem Roman-Wettbewerb eingereicht. Es gewann unter siebenhundert Manuskripten und erschien dann bei Bertelsmann. Es hat sich über 350.000 Mal verkauft. In meinem ganzen Leben habe ich fast zwei Millionen Bücher verkauft. Mit dem Geld habe ich mir Freiheit verschafft. Nach der Liebe der größte Wert.“
In der Tür klirrte der Schlüssel. Im Flur des kleinen 1956 erbauten Reihenhauses waren Schritte zu hören. Friedrich trat ins Zimmer ein. Christines Stimme verlor sich.
„Sie haben uns gestört“, sagte ich mit leicht vorwurfsvollem Ton.
„Hab‘ keine Angst, sie kommt zurück“, ging er zum Duzen über.
„Wo bin ich eigentlich? Wo habt Ihr mich hingeschickt?“
„Du bist Stipendiat des Hessischen Literaturrates. Wir haben dich auf Empfehlung des Prager Literaturhauses ausgewählt. Du erschienst uns interessant.“
„Warum ich? Warum gerade hier?“
„Das ist erst der Anfang, mein Freund. Du ahnst nicht, was Dich hier noch erwartet.“
Er lächelte, nahm die Post und ging.

(Kassel, 2.12.21)