„‚Es braucht nicht viel Intelligenz, um an Gräbern zu weinen‘, schrieb jemand, als der Krieg so alltäglich wurde, dass man zu zweifeln begann, ob es noch ein Krieg war.“ So lautet der Beginn eines Gedichtes von Yaryna Chornohuz. Yaryna ist Poetin, und Yarina ist Soldatin. Sie ist eine von ca. 80 sogenannten „poet-soldiers“, also Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die aktuell in den ukrainischen Streitkräften kämpfen. Als eine von acht Poet*innen wurden die Arbeiten von Yaryna sowie sieben ihrer Kolleg*innen am 24. Mai von Viktoria Feshchuk, selbst ukrainische Dichterin, im Salon des Palais Bellevue im Rahmen der Veranstaltung „Words and Bullets“ vorgestellt. Die Veranstaltung fand als  Engagement für ein geeintes demokratisches Europa und im Vorfeld der Europawahl statt.

„Poesie vom Schlachtfeld“ hieß es im Untertitel des Abends, den die Stiftung Brückner-Kühner gemeinsam mit der Europa Union ausrichtete, die sich aktuell um eine Städtepartnerschaft Kassels mit einer ukrainischen Stadt bemüht. Viktoria Feshchuk lebt seit zwei Jahren im Dichterhaus Brückner-Kühner mit einen Stipendium des Programms „Hafen der Zuflucht Hessen“.

Das Format der Veranstaltung hatte sich die Autorin selbst ausgedacht: Nacheinander stellte sie acht ihrer Kolleg*innen an der Front zunächst mit Biographien, dann mit Videos vor, in denen die Schreibenden ihre Gedichte vortragen – mal aufgenommen in einem Café bei einer Literatur-Veranstaltung oder mit Klavier auf einer Bühne, meist aber in Uniform, irgendwo an der Front in der Ukraine, ein Maschinengewehr griffbereit. Das war es aber auch schon mit dem militärischem Auftreten. Die „poet-soldiers“ sind junge Menschen, die, wie Viktoria Feshchuck mitteilt, gerne kochen oder Musikinstrumente bauen oder „so tun, als könne man Gitarre spielen“; sie könnten auch in der sympathischen WG nebenan wohnen. Keine heroischen oder nationalistischen Gesten, kein Hass, kaum Aggressivität klingen durch die rezitierten Zeilen. Stattdessen nüchterne Bestandsaufnahmen darüber, was alles nicht ins Marschgepäck passt – statt Wasserflaschen, Proviant und Schlafsack kann Ihor Mitrow nur Munition, Munition und noch einmal Munition einpacken. Artur Dorn greift berühmte Bibelworte auf („Die Liebe ist langmütig […] und manchmal hat die Liebe Beine, die durchlöchert sind“). Und Wassyl Duchnowskyj schreibt über Kindheitserinnerungen an einen wunderbaren Großvater – aber, so heißt es bei ihm, „neben den Wundern gibt es auch noch das Leben und den Tod“. Das ist wortwörtlich zu nehmen: Nicht alle der vorgestellten Dichtenden sind noch am Leben, Maksym Krywzow ist im Januar gefallen.

Die Gleichzeitigkeit scheint überhaupt der Motor zu sein, der den Abend antreibt: Während das überwiegend ukrainische Publikum im beschaulichen Kasseler Palais sitzt (ein Kind flitzt sorglos zwischen den Reihen umher) und sich zumindest für den Moment sicher fühlt, wird mitten im Raum durch Poesie und Bild die Realität der dichtenden Soldat*innen präsent, die Begegnung zweier völlig verschiedener Wirklichkeiten. Dank der sensiblen Übersetzung von Ganna Gnedkova und der versierten Vortragsweise von Dr. Friedrich Block und Julia Blando (Stiftung Brückner-Kühner) im Anschluss an das jeweilige Poesie-Video konnten auch die wenigen deutschsprachigen Besuchenden den Versen lauschen. Die Übertragung macht die Begegnung mit zeitgenössischer ukrainischer Lyrik und Literatur möglich, die hierzulande bisher kaum wahrgenommen wird. In Kassel war es der erste ukrainische Literaturabend – vielleicht aber nicht der letzte. Auch sonst entsteht der Eindruck eines Vermittlungs- und Gemeinschaftsprojektes: Für den vollen Saal sorgte dank engagierter Öffentlichkeitsarbeit Viktor Buryachok, für leibliches Wohl Bożena Meske und weitere Mitglieder des Vereins Europa Union Kassel und für das gesamte Konzept sowie die Leitung des Abends natürlich Viktoria Feshchuk. Dennoch: Für Menschen, die selbst noch keine Kriegserfahrungen sammeln mussten, ist die Thematik nach diesem Abend zwar „völlig klar / leider / unübersetzbar“ (Jelysaweta Scharikowa).

 

Viktoria Feshchuk ist Dichterin und Redakteurin, wurde in der Ukraine geboren und lebt und arbeitet dank des Vereins Gefangenes Wort und der Stiftung Brückner-Kühner sowie des Schutzprogramms Hafen der Zuflucht Hessen des hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur seit zwei Jahren in Kassel. Ihr Langgedicht „182 Tage“ in dem sie ihre eigenen Kriegs- und Fluchterfahrungen festgehalten hat, ist teilweise in Kassel entstanden und erschien kürzlich in deutscher Übersetzung im Verlag Jenior. Sie ist unter anderem tätig für Chytomo, einer ukrainischen Medien-Plattform, die unter dem Titel „Words and Bullets“ bereits Interviews mit dichtenden Soldat*innen veröffentlichte.