von Victoria Feshchuk
Die Dichterin und Übersetzerin Victoria Feshchuk aus Kyjiw teilt hier ihre Erfahrungen mit, die sie in Kriegszeiten bei einem Stipendienaufenthalt im Dichterhaus Brückner-Kühner macht.
Im Augenblick lebe ich in einem öffentlichen Gebäude. Tatsächlich handelt es sich um ein Museum, in das jede Woche nur ein paar Besucherinnen und Besucher kommen. Ein Dichterhaus. Den Garten teile ich mir nur mit diesen wenigen Personen. Ich benutze einen Staubsauger für den Flur zwischen meinem Zimmer und den ‚Repräsentationsräumen‘ und werde so in diesen Raum hineingezogen. Oder ich werde selbst zu einer Intervention.
Also hab ich mich entschieden, für mein Zimmer, den einzigen nicht-öffentlichen Bereich in diesem Haus, zu sorgen, oder für meinen Interventionsstatus zu sorgen, indem ich ein weiteres – mein – Gedicht schreibe. Letztlich ein Tagebuch-Gedicht. Ich befestige es an meinem Türfenster, bedecke das rechteckige Glas mit freien Versen wie mit Fensterläden. Oder wie mit einem Bannzauber in einem ganz heidnischen Sinn, der mir so lang verschüttet war, nun aber auch zur lebhaften Erinnerung wurde. Als ich im Mai nach Kyiv zurückkam und mich fragte, wie ich meine obszön sonnige Wohnung mehr abschotten könnte, zog ich Sterne aus Klebestreifen auf die Fensterscheiben, um diese zu festigen und das Zersplittern durch eine Druckwelle zu vermeiden. Hier, in meinem eigenen Zimmer im öffentlichen Raum, suchte ich erneut Sicherheit und befestigte Sterne aus Klebestreifen auf der Gedicht-Tür.
Zum Tagebuchgedicht: Am 24. Februar beschloss ich, die ersten drei Zeilen des Tagebuch-Gedichts zu schreiben, und nannte sie „Tag 1“. Es war kein erster Tag von irgendwas, sondern ein Tag der Intensivierung, den ich, so die Befürchtung, angesichts der Last mit der Erfahrung Anderer vielleicht vergessen würde. Jetzt sitze ich in einem netten Ledersessel in Kassel und erinnere mich ungut an diesen Tag – wie ich durch Kyiv laufe, haltbare Lebensmittel kaufe, nach vorhandenen Schutzräumen suche, immer eine Fünf-Kilogramm-Katze dabei, weil ich sie, würde ich sie irgendwo zurücklassen, niemals lebend wiederfinden würde.
Wahrscheinlich ist und bleibt mein Gedächtnis ein naturgemäß schlechter Erzähler von Kriegsereignissen, viel schlechter als das meiner Großmutter, die den Zweiten Weltkrieg in meinem Alter erlebte, zusammen mit ihren zwei Kindern. Also schreibe ich ein Tagebuch-Gedicht, um mir selbst zu beweisen, dass ich Wortbedeutungen erfahren habe, die ich in Versen gesammelt habe. Manchmal sind die Verse zu abstrakt für ein Tagebuch, manchmal offenbar zu persönlich für ein Gedicht. Zu dicht, um in beide Kategorien zu passen. Und ich schreibe sie selbst hier fort, in einem gemütlichen Sessel, in einer noch ruhigen deutschen Stadt, in einem Haus, in dessen großem Keller zwei Familien Schutz vor Beschuss finden könnten.
Daher wird mein Tagebuch-Gedicht zu einer Einladung in meinen privaten Raum, ein Zeichen an der Tür, das Besucher entweder zu einer besonderen Erfahrung anregen oder sie auch abschrecken kann. Wie eine Trigger-Warnung in den Social Media, die die Information im öffentlichen Raum weniger öffentlich machen (ohne aber die gnadenlose Realität auszuräumen, wie man es heutzutage bei Meta beobachten kann). Hier wird ein Gedicht-auf-der-Tür selbst zu einer Tür – eine künstliche Grenze zu einem Raum oder ein Weg, dort hinein zu gelangen.
Zur Tür: Das ist keine stabile Grenze, keine dich fest umschließende Mauer (wo doch Mauern im Krieg niemals der sicherste Schutz sind). Eine Tür kann ganz geöffnet werden, sodass man den Raum betreten kann. Oder sie wird nur ein bisschen geöffnet, sodass man nur einen kurzen Blick ins Innere wirft. Man kann an der Tür klopfen oder da eine Nachricht hinterlassen, wenn sie geschlossen ist. Man kann so tun, als sei keine Person hinter der Tür, selbst wenn sie weit geöffnet ist. Die gleichen Möglichkeiten und Funktionen sehe ich in der Poesie – in gewisser Weise eine wechselseitige Sicherheit zu erzeugen, die Fähigkeit, das zu kontrollieren. Deine Schlüssel festzuhalten, sie zu teilen, sie bereitwillig auszuhändigen. Das ist eine sehr universelle Idee von Sicherheit, eine Kontrolle für deine Offenheit, die dir einen eigenen Raum in den öffentlichen Erzählungen von Schmerz und Widerstand lässt, die nicht nur heute in ukrainischen Häusern vorherrschen, sondern in der ganzen Menschheitsgeschichte, wie sie bewahrt und erzählt wird.
Wenn deine augenblickliche Sicherheit so leicht zerbrechen und völlig außer Kontrolle geraten kann, dann ist es nur natürlich, deine Unversehrtheit in Dichtung einzuschreiben. Zumindest für ein paar Besucher und Besucherinnen pro Woche.
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Aus dem Englischen von Friedrich W. Block
Die englische Fassung wurde bei Chytomo veröffentlicht.
Victoria Feshchuks Stipendienaufenthalt erfolgt im Rahmen des Programms „Hafen der Zuflucht Hessen“, das vom Verein Gefangenes Wort in Kooperation mit der Stiftung Brückner-Kühner organisiert und vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst finanziert wird. Vermittelt wurde die Autorin durch Artist at Risk und das Goethe-Institut.